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Rezensionen von Ruth:

Ein weiteres dunkles Kapitel DDR- Geschichte

Maifliegenzeit von Matthias Jügler



Matthias Jügler, noch in der DDR geboren, und zwar 1984 in Halle, hat sich schon in seinem zweiten Roman „ Die Verlassenen“ mit der Vergangenheit seines Landes beschäftigt. Und das, obwohl er das DDR- Regime kaum bewusst erlebt hat; schließlich war er zur Wendezeit noch ein Kindergartenkind.

Trotzdem lässt ihn das Thema nicht los. Bei Recherchen zum unrühmlichen Kapitel der Zwangsadoptionen, bei denen man Eltern, die als „ Staatsfeinde“ galten, ihre Kinder weggenommen und zur Adoption freigegeben hatte, stieß er auf eine noch unglaublichere Geschichte. Ein realer Fall wurde dann zur Grundlage seines neuen Romans .
Der 65jährige Rentner Hans wird nach seiner Heimkehr vom Angeln von seiner Lebensgefährtin Anne mit einer Nachricht überrascht. Sein Sohn Daniel habe angerufen. Dabei ist Daniel doch vor vierzig Jahren schon gestorben, gleich nach seiner Geburt. Eigenhändig hatte Hans das Grab für sein Kind ausgehoben.
Wie glücklich waren Hans und Katrin, beides Lehramtsstudenten, über die Schwangerschaft. Sie machten Pläne für die Zukunft, Heirat, ein gemeinsames Haus, ein zweites Kind. Doch dann, als Katrin 1978 nach einem Kaiserschnitt einen Jungen zur Welt bringt, zerbrechen alle Wünsche und Hoffnungen. Das Baby wird der Mutter sofort weggenommen, es müsse dringend behandelt werden. Und dann der Schock: das Kind ist tot.
So ein Schicksalsschlag kann Paare noch fester aneinander binden, wenn beide sich in ihrer Trauer Trost und Stütze sind. Nicht aber hier. Während Hans wie erstarrt sich in das Unabänderliche fügt, zweifelt Katrin an den Aussagen der Ärzte. Sie ist überzeugt, dass ihr Kind gesund ist, dass es lebt. Hans erträgt ihre Zweifel nicht, er will, dass Katrin den Verlust akzeptiert. Die Beziehung zerbricht.
Die beiden sehen sich erst wieder neun Jahre später, Katrin ist an Krebs erkrankt. Vor ihrem Tod nimmt sie Hans noch das Versprechen ab, er möge die Augen offenhalten, falls sich irgendwann eine Möglichkeit ergibt, Genaueres zu erfahren.
Nach dem Mauerfall unternimmt Hans mehrere Versuche, Einblicke in die alten Krankenhausakten zu erhalten. Dabei stößt er zunächst auf erheblichen Widerstand, doch später erhält er geschwärzte Dokumente. Etwas scheint tatsächlich vertuscht worden zu sein.
Und dann kommt der Anruf von seinem Sohn.
Nur knapp 160 Seiten braucht Matthias Jügler um diese unwahrscheinliche Geschichte zu erzählen. Aus Hans‘ Perspektive und in der Rückschau erfahren wir vom Geschehen. Ohne Pathos und ohne Sentimentalitäten, beinahe nüchtern schildert Hans das Erlebte. Dabei lernen wir einen stillen, introvertierten Menschen kennen. Kraft und Trost findet Hans beim Angeln, ein Hobby, das schon sein Vater pflegte. Hier, in der Einsamkeit der Natur, kann er seinen Gedanken nachgehen. Lange hatte er die Erinnerung an Katrin und seinen Sohn verdrängt. „ Heute weiß ich, dass der Versuch, die Ereignisse der Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, um das zu führen, was man ein normales Leben nennt, von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.“
Schuldgefühle plagen ihn. Katrin gegenüber, weil er sich damals so empathielos verhalten und ihre Zweifel nicht ernstgenommen hat und auch, weil seine Versuche, die Wahrheit herauszufinden, anfangs nur halbherzig waren. Fragen quälen ihn. Wie wäre sein Leben verlaufen ohne dieses Verbrechen? Wie das von Katrin und seinem Sohn?
Wie der Autor Vergangenes und Gegenwart, Reflexionen und Erlebnisse miteinander verknüpft, spricht für sein literarisches Können. Ruhe verströmen die zahlreichen Passagen übers Angeln. Jügler versteht es durch leise Andeutungen und viele Metaphern aus dem Naturbereich Stimmungen und Gefühlslagen spürbar zu machen.
Die titelgebenden Maifliegen verharren monatelang auf dem Grund der Flüsse und Bäche und steigen nur zur Paarung nach oben. „ Aber nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert.“
Das Angeln lehrt auch Geduld und das Loslassen - Können, beides Eigenschaften, die Hans brauchen kann.
Jügler lässt vieles im Ungefähren, in der Schwebe, lässt Raum für eigene Gedanken, und trotzdem ergibt das eine runde, stimmige Geschichte.
In der Nachbemerkung lesen wir, dass so etwas kein Einzelfall war. „ Aufgeklärt sind bis zum heutigen Zeitpunkt drei solcher Verbrechen, die Zahl der Verdachtsfälle liegt jedoch bei 2000.“ Die „Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR“ kümmert sich um diese.
Der Leipziger Autor hat unlängst für diesen Roman den Rheingau- Literaturpreis erhalten, völlig zu Recht.
Dieses stille, aber umso eindringlichere Buch verdient alle Aufmerksamkeit, weil es jeglicher Ostalgie entgegenwirkt, in dem es ein weiteres Kapitel des Unrechtsstaates DDR aufzeigt.

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Ein Teppich aus Bildern und Geschichten

Astrids Vermächtnis von Lars Mytting

Alle, die wie ich voller Begeisterung die ersten beiden Bände der Schwesternglockentrilogie gelesen haben, erwarteten sehnsüchtig das neue Buch des norwegischen Autors Lars Mytting, mit dem er seine Reihe um die Hekne - Schwestern und ihre Nachkommen beendet hat.
Es beginnt wie immer mit einem Rückblick ins frühe 17.

Jahrhundert, zu jener Zeit, als die beiden Hekne- Schwestern lebten. Dabei wiederholt Mytting nicht nur Bekanntes, sondern fügt dem damaligen Geschehen neue Facetten hinzu. Dieses Mal geraten die Schwestern ins Visier der Kirche, die sie als „ Monstrum“ mit dem Teufel im Bunde wähnen.
Denn das Besondere an den Zwillingstöchtern Halfried und Gunhild war, dass sie an der Hüfte zusammengewachsen waren. Sie zählten zu den besten Weberinnen des ganzen Gudbrandstals und ihr Hauptwerk war jener legendäre Wandteppich, in den Prophezeiungen und das Ende des letzten Gemeindepfarrers hineingewebt wurden.
Dieser Pfarrer Kai Schweigaard tritt in allen drei Bänden auf und wird so zur zentralen Figur der Geschichte. Er kommt im ersten Band als junger fortschrittsgläubiger Pfarrer nach Butangen und verfügt, dass eine neue Kirche gebaut werden soll und lässt die alte Stabkirche von einem deutschen Architekturstudenten abbauen und nach Dresden versetzen. Aber schlimmer noch. Er veranlasst, dass die beiden Glocken, die den Schwestern zu Ehren gegossen wurden, getrennt werden. Dabei sollten sie zusammenbleiben, wie die beiden Schwestern, ansonsten drohe Unheil. Diese Schuld lastet schwer auf Kai Schweigaard.
Mittlerweile, wir sind im Jahr 1936, ist er ein alter Mann, der sich aber immer noch um seine Schäfchen kümmert. Eine besondere Verbindung besteht zum Hekne -Hof und hier vor allem zu Astrid. Sie ist die Enkelin jener Astrid, der großen, aber unerfüllten Liebe des Pfarrers.
Wie ihre Großmutter ist auch die junge Astrid eine selbstbewusste, starke Frau. Sie will genauso wenig wie ihr Bruder das väterliche Erbe antreten. Dabei haben es ihre Eltern mit sehr viel Pioniergeist und harter Arbeit zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Doch während ihr Bruder seine künstlerische Begabung entfalten möchte, strebt Astrid eine Ausbildung als Lehrerin an.
Allerdings werden die Pläne der Geschwister durch historische Umwälzungen zunichte gemacht. Im April 1940 marschieren deutsche Truppen in Norwegen ein und besetzen das Land.
Der Krieg kommt damit auch in das abgelegene Gudbrandstal. Und die SS-Organisation „ Deutsches Ahnenerbe“ interessiert sich für den mythischen Wandteppich und die in Butangen verbliebene zweite Glocke.
Astrid, die denselben Kampfgeist hat wie ihre Großmutter, engagiert sich schnell im Widerstand gegen die Besatzungsmacht. Sie setzt ihr Leben und das ihrer Familie aufs Spiel, indem sie Informationen sammelt und weiterleitet. Bis die Nazis ihr auf die Spur kommen. Um sie zu retten, greift der Pfarrer zu drastischen Maßnahmen. Das fällt ihm nicht leicht, verstößt er damit doch gegen seine Glaubensgrundsätze und riskiert nicht nur sein irdisches Leben.
Wieder verwebt Lars Mytting persönliche Schicksale mit historischen Gegebenheiten. Ist es am Anfang noch der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, wie auch in den letzten beiden Romanen, so steht hier vor allem die Besatzungszeit und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung im Vordergrund. Mit Härte und Brutalität sorgen sie für eine Stimmung voller Misstrauen und Angst. Der frühere Zusammenhalt im Dorf ist dahin. Die einen schlagen sich auf die Seite der Besatzer, während andere voller Neid auf etwaige Günstlinge schauen. Wer sich auf die Seite des Widerstands stellt, muss sich permanent verstellen, muss auch seine Nächsten belügen, um diese nicht noch mehr in Gefahr zu bringen. Außerdem war niemand sicher, ob kein Verräter in den eigenen Reihen zu finden war. „ Der Krieg währte erst wenige Wochen, und wer im April noch ein Patriot war, war möglicherweise im Mai schon ein Verräter.“
Es gibt auch noch andere, die sich in den Dienst der Nazis stellen. Nicht weil sie deren Ideologie teilen, sondern weil sie vereint mit den Deutschen gegen die Bolschewiken kämpfen.
Lars Mytting hat auch in diesem Roman wieder glaubwürdige und komplexe Charaktere geschaffen. Es sind Menschen, die an den Herausforderungen, die das Leben an sie stellt, wachsen und reifen. „ Eins hat mich der Krieg gelehrt. Schwerter werden im Feuer geschmiedet und im Wasser gehärtet. Helden werden aus gewöhnlichen Menschen geschmiedet und härten tut sie das Unrecht.“ Andere wiederum sind voller Widersprüche, kämpfen mit sich und den Umständen, wie z. B. Tarald, Astrids Zwillingsbruder. Und der Leser lebt und leidet mit ihnen mit.
Doch neben der zeitgeschichtlichen Realität nimmt auch wieder der große Mythos um die Schwesternglocken und dem sagenhaften Wandteppich breiten Raum ein.
All das entfaltet Mytting mit seiner großen Sprachmacht. Bilderreich und detailliert entwirft er Szenen voller Atmosphäre und zieht so den Leser in seinen Bann.
Hat der Roman in der Mitte einige Längen, so gewinnt er gegen Ende hin wieder an Tempo und Spannung. Gekonnt führt der Autor die meisten Fäden am Ende zusammen. Dass hier ein paar Lücken bleiben müssen, ist der Fülle an Personen und Geschehnissen geschuldet.
Lobenswert ist der mehrere Seiten umfassende Überblick über die wichtigsten Figuren, Tiere und Gegenstände, die in allen drei Romanen eine wesentliche Rolle spielen. Ebenso die kurze Zusammenfassung über die historischen Hintergründe der deutschen Besatzung Norwegens; beides am Ende des Buches zu finden.
Auch wenn sich der Roman ohne Vorkenntnisse lesen lässt, empfehle ich die Bücher in ihrer Reihenfolge zu lesen. Erst dann wird man alle Zusammenhänge verstehen und kann völlig in diese Welt eintauchen.
Trotz kleiner Kritikpunkte halte ich „ Astrids Vermächtnis“ für einen würdigen Abschluss der Trilogie; Lars Mytting hat einen gewaltigen Teppich voller Bilder und Geschichten gewebt.

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Gesellschaftsportrait und Entwicklungsgeschichte

Die Tage des Wals von Elizabeth O'Connor



Die junge englische Autorin Elizabeth O‘ Connor hat bisher Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlicht. Ihr erster Roman „ Die Tage des Wals“ wurde als bestes Debut ausgezeichnet.
Schauplatz ist eine fiktive kleine Insel vor der walisischen Küste. Hier lebt die achtzehnjährige Manod mit ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester und ihrem Vater, einem Hummerfischer.

Die Mutter ist seit vielen Jahren tot. Mittlerweile wohnen neben dem Pfarrer und dem polnischen Leuchtturmwärter nur noch zwölf Familien auf der Insel. Viele Häuser sind verwaist, zum Teil weil einige junge Männer im letzten Krieg umgekommen sind, aber auch weil viele aufs Festland gezogen sind, in der Hoffnung auf Arbeit und ein leichteres Leben.
Manod erzählt von den letzten vier Monaten des Jahres 1938, die von zwei einschneidenden Ereignissen geprägt waren. Im September strandet ein Wal am Ufer, für manche Inselbewohner ein schlechtes Omen.
Einen Monat später kommen zwei Ethnografen aus Oxford hier an, Edward und Joan. Manod wird bald zur Assistentin der beiden, übersetzt walisische Texte und führt sie herum.
Für die junge Frau sind die zwei Forscher eine Brücke zu der Welt da draußen und eine Chance, von hier wegzukommen. Denn sie träumt von einem anderen Leben, als die Insel bieten kann. Dem traditionellen Los aller Frauen hier möchte sie entkommen. „ Ich hatte Mädchen erlebt, die mit sechzehn heirateten, mit zwanzig mehrere Kinder hatten, mit fünfundzwanzig vom Meer verwitwet wurden, ausgelaugt und verloren.“ Manod ist klug und möchte Lehrerin werden. Aber bisher hält sie die Verantwortung für ihre Schwester noch hier.
Doch Edward und Joan nutzen Manod für ihre Zwecke aus. Am Ende bleibt ihr nur das Vertrauen in die eigene Stärke.
Was beim Lesen sofort auffällt und für den Roman einnimmt, ist die Sprache. Die Autorin findet sehr poetische Bilder für die Natur und die Landschaft , wie z.B. „ Nach dem Sommer kreist die Kälte, stürzt dann herab wie ein Stein.“ Aber auch für die seelische Verfassung der Ich- Erzählerin: „ All meine Entscheidungen kamen mir vor, als versuche ich, einen Fisch zu fangen, den es nicht gab, bis ich ihn fing.“
Dabei beschreibt sie gleichzeitig äußerst realistisch den Arbeitsalltag der Bewohner, die hauptsächlich vom Meer leben.
Mit mal sehr kurzen, dann wieder längeren Kapiteln hat der Roman eine eigenwillige Erzählstruktur. Dazwischen gesetzt sind Berichte der Ethnografen sowie Transkriptionen von Volksmärchen, die man sich hier erzählt, und altem Aberglauben.
Sprache und Erzählstil passen sehr gut zum Schauplatz, spröde, karg und gleichzeitig sehr schön. Auch die Kommunikation zwischen den Menschen ist kurz und knapp und aufs Wesentliche reduziert.
Elizabeth O‘ Connor beschreibt eine Gesellschaft, die zum Untergang verurteilt ist. Es sind nur noch wenige, die hier leben wie Generationen vor ihnen. Sie kennen noch die alten Mythen, sprechen ihre eigene Sprache. Aber bald werden die letzten von ihnen auch fortgegangen sein.
Dabei arbeitet sie sehr gut den Kontrast heraus, der sich aus dem Zusammentreffen zwischen den Engländern und den Inselbewohnern ergibt. Edward und Joan kommen mit dem Wunsch hierher, das archaische Leben zu dokumentieren, doch sie unterliegen ihren eigenen Vorstellungen. Während Joan das Meer romantisch verklärt, weiß Manod, wie gnadenlos und unerbittlich die See sein kann. In ihrer Forschungsarbeit geht es ihnen nicht um Authentizität, sondern um Wirkung und Effekte.
In einer vorangestellten Anmerkung zum Text erwähnt die Autorin einen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1934, „ Die Männer von Aran“. Dem Regisseur Robert J. Flaherty wurden sachliche Fehler und inszenierte Szenen vorgeworfen. Möglicherweise ist dieser Roman eine Antwort auf diesen Film. Die Literatur vermag einen authentischen Blick auf dieses vergangene Leben zu werfen.
Gleichzeitig haben wir es hier mit einer klassischen Entwicklungsgeschichte zu tun. Der Leser folgt der jungen Protagonistin in ihrem Bestreben, ihren eigenen Weg zu finden, sich zu emanzipieren.
Der historische Hintergrund wird nur ganz dezent in das Geschehen eingebaut. Man hört im Radio vom Münchner Abkommen, ein Flugblatt kursiert und ein Boot mit jüdischen Kindern auf dem Weg nach Irland wird gesichtet.
Die Autorin lässt manches in der Schwebe, vieles wird nur angedeutet und der Phantasie des Lesers überlassen, das Ende bleibt offen.

„ Die Tage des Wals“ ist ein ruhiger, ein melancholischer und atmosphärischer Roman, der langsam gelesen werden will.

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Bewährtes System

tiptoi® Mein Wimmelbuch von Anja Kiel

„ Mein Wimmelbuch“ ist ein neues Bilderbuch für Drei- bis Fünfjährige, das durch den tiptoi- Stift ( nicht im Buch enthalten) zum interaktiven Leseerlebnis wird.
Auf sieben großformatigen Doppelseiten gibt es Wimmelbilder aus der Alltagswelt der Kleinen, angefangen beim quirligen Leben in der Stadt, über einzelne Spielbereiche im Kindergarten bis zum vergnüglichen Badespaß im Schwimmbad oder den bunten Attraktionen auf dem Stadtfest.

Es empfiehlt sich, dass Eltern zuerst einmal mit ihrem Kind gemeinsam das Buch anschauen, den kurzen Text auf jeder Seite vorlesen und die verschiedenen Aktionen ausprobieren. Später kann das Kind sich eigenständig mit dem Buch beschäftigen. Und dafür wird viel Stoff für Auge und Ohr geboten. So müssen Geräusche zugeordnet oder Reime ergänzt werden. Sehr oft gilt es bestimmte Dinge zu entdecken, farbliche Gegenstände, einzelne Szenen und Abläufe. Durch die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade ist das Buch tatsächlich für jüngere und etwas ältere Kinder geeignet. Drei Lieder lockern das Ganze noch auf.
Ansprechende und detailreiche Illustrationen laden zum genauen Hinsehen ein. Ebenfalls positiv zu bewerten ist, dass bei den Figuren auf Diversität geachtet wurde.
So ist „ Mein Wimmelbuch“ wieder ein gelungenes Buch aus der tiptoi- Welt, abwechslungsreich, spannend und lehrhaft.

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Aus Jim wird James

James von Percival Everett

Percival Everett ist einer der renommiertesten schwarzen Schriftsteller der USA. Er hat über dreißig Bücher verfasst, darunter dreiundzwanzig Romane, von denen bisher nur wenige ins Deutsche übersetzt wurden. Doch spätestens seit seinem letzten Buch „ Die Bäume“ ist er auch bei uns mehr als ein Geheimtipp.

Mit dem Roman „ James“ ist er ein Wagnis eingegangen. Hat er doch einen Klassiker der amerikanischen Literatur, ja der Weltliteratur, genommen und seinen Fokus auf eine andere Figur gerichtet.
Bei Mark Twains „ Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, 1884 erstmals erschienen, spielt der Sklave Jim eine wesentliche Rolle . Everett nennt ihn nun „ James“ und macht ihn zur Hauptfigur seines Romans. Und zeigt uns so durch dessen Perspektive, wie anders sich hier die Geschichte liest.
Anfangs ist Everett noch sehr nah am Original. Jim und Huck treffen sich auf einer Insel im Mississippi. Beide sind hierher geflohen, Huck vor seinem gewalttätigen Vater und Jim, weil er verkauft werden soll. Mit einem Floß versuchen sie Richtung Süden zu kommen, in einen jener Staaten, in denen die Sklaverei schon abgeschafft worden ist. Dabei erleben sie viele gefährliche Situationen und treffen auf einige Gauner und Betrüger. Doch was sich bei Twain als vergnügliches Abenteuer liest, bekommt bei Everett, bei allem Witz, den der Roman hat, eine bittere, ernste Note. Denn für James ist das alles kein Spiel, sondern lebensbedrohend.
Wenn sich die Wege der beiden ungleichen Flüchtenden trennen, gibt das Everett die Möglichkeit, völlig neue Episoden dieser Geschichte hinzuzufügen. James wird Teil einer Minstrel-Show, wo er zwischen lauter schwarz geschminkten Sängern auftritt; er wird verkauft und muss in einem Sägewerk schuften. Dabei muss er ständig um sein Leben fürchten. Hier zeigt Everett das ganze Ausmaß und die Brutalität des Rassismus und erspart uns dabei keine Grausamkeit. So wird z. B. ein Sklave, der James einen Bleistiftstummel zukommen lässt, erst gefoltert, dann gelyncht.
Schon von Beginn an aber ist die Figur Jim/ James anders, wesentlich komplexer angelegt. Das zeigt sich schon in der Eingangsszene. Wie bei Twain wird Jim hier Opfer eines Streiches von Tom und Huck. Doch bei Everett durchschaut der Sklave das Spiel und stellt sich nur dumm, denn „ Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen,…“
So ist James höchst gebildet, hat in Richter Thatchers Bibliothek die großen Philosophen studiert und führt in seinen Träumen Diskussionen mit Voltaire und Locke. Dabei entlarvt er sie als nicht die großen Freiheitsdenker, sondern als Kinder ihrer Zeit.
Auch lässt Everett seinen James zweisprachig auftreten. Unter seinesgleichen sprechen die Schwarzen ein gepflegtes Englisch. Erst in der Begegnung mit Weißen verfallen sie in ihren Südstaatenslang. „ Die Weißen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen…. Wenn sie sich unterlegen fühlen, haben nur wir darunter zu leiden.“ Da ist es nur folgerichtig, wenn James Kinder unterrichtet, wie sie mit Weißen zu sprechen haben. „ Sie genießen es, euch zu verbessern und zu glauben, dass ihr dumm seid.“ Hiermit entlarvt der Autor gar nicht subtil die Dummheit der Sklavenhaltergesellschaft. Und gleichzeitig wirft er einen Blick auf unsere Gegenwart, in denen schwarze Eltern ihren Kindern Verhaltensregeln im Umgang mit weißen Polizisten auf den Weg geben.
Everett verweist nicht nur auf die subversive Kraft des Lesens und von Bildung, sondern lässt James seine Geschichte aufschreiben. „ Mit meinem Bleistift schrieb ich mich ins Dasein. Ich schrieb mich ins Hier.“
James‘ Geschichte steht stellvertretend für die vieler. Es ist wichtig und notwendig, die Geschichte der Schwarzen im ( literarischen ) Gedächtnis zu behalten, deshalb schreibt James, deshalb schreibt Everett.
Ein weiterer Unterschied zu Twain liegt in der zeitlichen Verortung. Spielte „ Huckleberry Finn“ in den 1840er Jahren, so verlegt Everett seinen „ James“ ins Jahr 1861, rund um den Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs. Aber auch hier macht sich die Hauptfigur keine Illusionen. „ Eins wusste ich: Was auch immer zu diesem Krieg geführt hatte, die Befreiung der Sklaven war ein Nebenmotiv und würde ein Nebenergebnis sein.“
Am Ende sieht James keine andere Lösung, als sich mit Gewalt sein Recht zu verschaffen.
Im Verlaufe der Handlung wird Jim zu seinem eigenen Herr; er legt seinen alten Sklavennamen ab und nennt sich fortan James. „ Mein Name gehörte endlich mir.“
Mit viel Phantasie und großer Sprachmacht hat Percival Everett einen Roman geschaffen, der zwar in der Vergangenheit spielt, aber aktuelle Debatten aufgreift und auf die Gegenwart verweist.
Lobenswert ist die Leistung des Übersetzers Nikolaus Stingl. Denn es war kein Leichtes, die spezielle Sprache, derer sich James bedient, in ein glaubwürdiges Deutsch zu transportieren. Diese Aufgabe hat er bravourös gemeistert.
Zwei Fragen stellen sich manche bei diesem Buch:
Die eine ist die nach der Legitimation. Darf Percival Everett das? Ja, denn Literatur darf alles. Außerdem ging es dem Autor nicht darum, Mark Twain zu demontieren. Mark Twain war kein Rassist, aber natürlich ein Kind seiner Zeit. Wie Everett in seiner Danksagung schreibt, sei der Roman eine Referenz vor Mark Twain. „ Sein Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde.“
Die zweite Frage ist, ob es überhaupt eine Neu- Erzählung dieses Klassiker braucht? Ja, denn es ist ein Buch für Schwarze und weiße Leser gleichermaßen. Den einen bietet er als Identifikationsfigur statt eines dümmlich- naiven Sklaven einen intelligenten, mutigen und selbstbewussten Mann, der für seine Freiheit und die seiner Familie kämpft und die anderen lässt er miterleben, wie sich die Welt einem Schwarzen zeigt.
„ James ist ein kluges, ein wichtiges Buch; eine fesselnde und bedrückende Lektüre.

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Liebevoller, aber ungeschönter Blick auf den bäuerlichen Alltag

Mühlensommer von Martina Bogdahn

Maria freut sich auf ein entspanntes Wochenende. Gemeinsam mit ihren beiden Teenager- Töchtern und einem befreundeten Ehepaar geht es in die Berge. Doch dann erreicht sie ein Anruf ihrer Mutter und der Ausflug endet jäh. Der Vater hatte einen schweren Unfall und liegt nun im Krankenhaus, Ausgang ungewiss.

Die Mutter ist voller Sorge, nicht nur um ihren Mann. Nein, der Hof daheim muss versorgt werden und die demente Großmutter braucht jemanden, der ein Auge auf sie hat.
Maria fährt sofort zum Elternhaus, dem Mühlenhof, und packt an. Die Arbeit ist ihr von Kindesbeinen an vertraut. Und zwischen all dem Vertrauten gehen die Gedanken zurück in ihre Kindheit, in die 1980er Jahre.
Es war eine unbeschwerte Zeit für Maria und ihren zwei Jahre älteren Bruder Thomas. Gemeinsam toben sie im Schnee herum, beobachten die Geburt junger Kätzchen, hecken Streiche aus. Doch das Leben im Verbund mit der Natur hat auch seine Schattenseiten. Wenn die anderen Kinder im Sommer ins Schwimmbad fahren, müssen Maria und Thomas bei der Heuernte mithelfen. Wenn die anderen nach den Sommerferien mit ihren Urlauben prahlen, sitzen sie still in der Ecke und hoffen, niemand würde bemerken, dass sie nichts zu erzählen haben. Der Hof und die Tiere wollen jeden Tag versorgt werden. Außerdem fehlt es an Geld für Ferienreisen und Geld für teure Klamotten. So endet z.B. eine Einkaufstour mit dem Vater in die nächste Stadt für Maria mit einer Enttäuschung. Der Vater sieht nicht ein, so viel für einen angesagten Benetton-Pulli zu bezahlen.
Es sind viele Episoden, heitere und weniger heitere, an die sich die Ich- Erzählerin Maria erinnert. Z.B. an das weihnachtliche Krippenspiel in der Kirche, bei dem immer, zum Ärger von Maria, die Tochter des Gemeindearztes die Hauptrolle spielen darf, oder an den Ausflug der Kommunionkinder, der für die Erzählerin doch noch ein gutes Ende nimmt. Die Gedanken reisen zurück an Schlachttage auf dem Hof oder an die vielen Handgriffe, die zum Anbau und zur Ernte von Hopfen notwendig sind. Und dabei ist es immer eine Selbstverständlichkeit, dass die Kinder mithelfen.
Doch neben den Erinnerungen muss sich Maria mit ganz konkreten Problemen auseinandersetzen. Tags darauf ist auch Bruder Thomas mit Ehefrau Christiane wieder auf dem Mühlenhof. Und nun steht ganz konkret die Zukunft des Hofes zur Debatte. Thomas ist bereit, das väterliche Erbe anzutreten, doch dazu braucht er Marias Entgegenkommen. Wird die Schwester, die schon lange in der Stadt wohnt, auf ihren Anteil verzichten? Und wie soll es weitergehen? Diesen Fragen ist man in der Familie nach einem großen Streit bisher ausgewichen. Doch nun muss eine Einigkeit erzielt werden, wenn der Hof eine Zukunft haben soll.
Auch hier entgeht die Autorin einer Romantisierung des Dorflebens. Stattdessen zeigt sie, vor welchen Problemen Landwirte heute stehen. Meist reicht der Verdienst nicht mehr aus, damit Alt und Jung davon leben können. Will man ganz aufgeben oder findet man zusätzliche Einnahmequellen? Neben der Sorge um den Vater und der täglichen Arbeit auf dem Hof müssen also grundsätzliche Dinge geklärt werden.
Die Autorin Martina Bogdahn ist selbst auf einem Einödhof in Mittelfranken aufgewachsen. So kann sie bei ihrem Debut auf eigene Erlebnisse und Erfahrungen zurückgreifen. Das spürt der Leser. Auch ihre Liebe zum Landleben zeigt sich in ihren atmosphärischen Beschreibungen. Man spürt die eisige Kälte im Winter ebenso wie die flirrende Hitze auf dem Feld, riecht den frisch gebackenen Apfelkuchen und den Duft von Brot, aber auch den Gestank im Schweinestall.
Trotz der schönen Kindheit steht für die jugendliche Maria aber fest, dass sie ein anderes, ein besseres Leben haben möchte. Gleich nach dem Abitur verlässt sie ihr Elternhaus, ihr Dorf und zieht in die Stadt.
Maria Bogdahn beschreibt das Landleben früher und heute mit viel Liebe, aber ohne jegliche Sentimentalität, fernab jeder „ Landlust“-Idylle.
Für zart besaitete Leser dürfte der Umgang mit den Tieren grenzwertig sein. Sicher, für den Bauern gehört das Schlachten des Schweines genauso zum Alltag wie die problematische Geburt von Ferkeln. Doch auf die ein oder andere Grausamkeit hier hätte ich verzichten können. Genauso wie auf den kurzen Flirt beim Schützenfest.
Trotz dieses Einwandes habe ich den Roman sehr gerne gelesen. „ Mühlensommer“ ist ein leicht zu lesender Unterhaltungsroman, der einen liebevollen, aber ungeschönten Blick auf den bäuerlichen Alltag wirft.

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Drei Frauen, drei Generationen, drei Lebenswege

Der Sommer, in dem alles begann von Claire Léost

Drei Frauen, drei Generationen, drei Lebenswege, alles zusammengeführt in einem Sommer im Jahr 1994 in der Bretagne. In drei Erzählsträngen entwickelt die französische Autorin Claure Léost ihre Geschichte.
1940 ändert sich mit dem Einzug deutscher Militärs das Leben im beschaulichen Le Bois d‘en Haut, auch für die zwölfjährige Odette, Tochter des Dorfarztes.

Ihr Vater, der als Kommunist weiter für ein freies Frankreich kämpft, wird von Männern in schwarzen Ledermänteln abgeholt und später im Lager erschossen. Ein Jahr vor Kriegsende stirbt ihre Mutter und Odette reist zu ihrer Tante nach Paris. Sie findet Arbeit als Dienstmädchen bei einer Familie mit zwei Kindern. Hier zählt nicht mehr, dass sie daheim eine der besten Schülerinnen war und ihre Eltern angesehene Leute im Dorf. „ In Paris war sie ein nichts. Oder noch weniger als nichts : eine vom Dorf, ein Landei, ein Bauerntrampel.“ „ Bretonen, das waren …eine Horde hungernder Hinterwäldler, die in Paris einfielen, um zu verdienen.“ so war die einhellige Meinung der Pariser.
Doch es kommt noch schlimmer. Odette ereilt das Schicksal vieler Dienstmädchen: sie wird geschwängert von ihrem Dienstherrn. Allerdings verläuft ihr weiterer Lebensweg und der ihres Kindes nicht dem Klischee entsprechend.
1994 zieht Marguerite mit Ehemann und siebenjähriger Tochter nach Le Bois d‘en Haut. Was zieht die elegante Pariserin, Dozentin für Literaturwissenschaften, an das Gymnasium in diesen entlegenen Ort? Ist sie damit nur ihrem Mann Raymond gefolgt, einem ehemals erfolgreichen Schriftsteller, der in der ländlichen Abgeschiedenheit seine Schreibblockade bekämpfen möchte? Oder verfolgt sie damit ganz eigene Pläne? Die Kollegen, ja die meisten Dorfbewohner begegnen ihr mit Misstrauen.
Doch die sechzehnjährige Helene ist fasziniert von ihrer neuen Lehrerin. Die erkennt bald ihr Potential und fördert das kluge Mädchen. Und Helene verkehrt auch immer öfter im idyllischen Herrenhaus von Marguerite und fühlt sich zusehends vom charismatischen Raymond angezogen.
Sehr zum Ärger ihres Freundes Yannik, der ihre Schwärmerei voller Eifersucht beobachtet. Außerdem hegt er als stolzer Bretone einen Groll gegen Franzosen aus der Hauptstadt. „ Man hat uns unsere Identität gestohlen, wir leben auf besetztem Gebiet. Die Geschichte Frankreichs ist nicht unsere.“so argumentiert er. Sein Zurück zu seinen bretonischen Wurzeln begnügt sich bald nicht mehr nur mit dem Erlernen der bretonischen Sprache. Er schließt sich einer Gruppe Fanatiker an, die für eine freie Bretagne kämpfen und dafür auch nicht vor Gewalt zurückschrecken.
Helene fühlt sich zerrissen von ihren widersprüchlichen Gefühlen und als dann noch bei ihrem geliebten Vater eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wird, ist sie völlig verzweifelt.
Es ist viel emotionaler Stoff, den Claire Léost in ihren Roman packt. Dabei schreibt sie in einer nüchternen, völlig unsentimentalen Sprache. Einzig in den Landschaftsbeschreibungen wird es poetisch. Hier ist die Liebe der Autorin zu ihrer Heimat spürbar. Allerdings wird hier nichts sentimental verklärt. Das Dorf ist keine Idylle. Man begegnet vielen Vorurteilen und kleingeistigem Denken.Und es ist nicht die Bretagne, in die es die Touristenströme zieht. Hier gibt es keine malerischen Hafenstädte direkt am Meer, keine wildromantischen Küsten. Nein, ihr Roman führt in die Bretagne der Wälder, der mythischen Orte. Der Leser erfährt so einiges über bretonische Geschichte und Kultur. Deshalb verwundert es nicht, dass die Autorin für diesen Roman mit dem Literaturpreis der Bretagne ausgezeichnet wurde.
Die Geschichte wird im Rückblick erzählt. Seit zwanzig Jahren lebt Helene schon in Paris, nun reist sie zum ersten Mal zurück in ihre Heimat. Und sie erinnert sich, was in jenem Sommer geschehen ist und was sie schließlich zum Weggehen veranlasst hat.
Wie viel von der Autorin steckt in dieser Figur? Die Eckdaten scheinen zu stimmen und gewidmet ist der Roman allen „ Bretonen, die irgendwann einmal fortgegangen sind“, wie sie selbst.
Es ist eine leise, sehr emotionale Geschichte, die auf ein dramatisches Ende zuläuft. Und obwohl dieses Ende vorweggenommen wird, bleibt der Roman spannend. Die Charaktere werden in ihrer Vielschichtigkeit gezeigt, nicht jede ihrer Handlungen kann man billigen, werden aber aus der Biographie heraus begründet. Die meisten Figuren durchlaufen eine Entwicklung, wobei die Autorin erfreulicherweise Leerstellen lässt, so dass der Leser diese selbst füllen muss.
„ Der Sommer, in dem alles begann“ ist ein leicht zu lesender Unterhaltungsroman, aber keiner mit Happy-End.

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Altlasten

Das Schweigen des Wassers von Susanne Tägder

Susanne Tägder, 1968 in Heidelberg geboren, ist Juristin und war Richterin am Sozialgericht in Karlsruhe, und hat nun mit „ Das Schweigen des Wassers“ ihren ersten Kriminalroman vorgelegt. Inspiriert wurde sie dazu durch eine Zeitungsreportage, in dem es um einen Fall aus DDR-Zeiten ging, der kurz nach der Wende wieder aufgerollt wurde.

Die Geschichte setzt ein im Herbst 1991 in der fiktiven Stadt Wechtershagen in Mecklenburg - Vorpommern. Von hier ging Arno Groth 1960 in den Westen und hierher wird er als Hauptkommissar von seiner früheren Dienststelle in Hamburg geschickt. Abgeschoben fühlt er sich, als „ Altlast“ nach einem beruflichen Fehler. Nun soll er hier als Aufbauhelfer Ost seine neuen Kollegen in westdeutscher Polizeiarbeit schulen. Keine leichte Aufgabe, denn diese begegnen ihm mit Vorsicht und Misstrauen.
Da wird er eines Tages auf dem Parkplatz der Polizeiwache von einem heruntergekommenen Mann angesprochen, ein Alkoholiker, wie es scheint. Der fühlt sich verfolgt und wolle nochmal wiederkommen, dieses Mal mit Beweisen. Während Groth noch überlegt, wie glaubwürdig diese Behauptung sei ( „ Jemand ist hinter mir her. Gilt das nicht für uns alle? denkt Groth. Wer wird denn nicht von etwas verfolgt, und wenn es nur die eigenen Fehler sind.“) und ob er der Sache nachgehen muss, da wird eine Leiche am Seeufer gefunden. Als Groth am Fundort eintrifft, stellt sich heraus, dass es sich bei dem Toten im Wasser um genau jenen Mann handelt. Der Bootsverleiher und Musiker Siegmar Eck. Für die Polizei vor Ort kein Unbekannter. War er doch in einem aufsehenerregenden Mordfall elf Jahre zuvor als Hauptverdächtiger festgenommen und verhört worden. Damals wurde die Polizistentochter Jutta Timm vergewaltigt und ermordet aufgefunden. Doch Eck kam wieder auf freien Fuß ; er hatte ein hieb- und stichfestes Alibi. Allerdings hat man danach das Verfahren eingestellt ; der Mörder der jungen Frau wurde nie gefasst.
Auch im aktuellen Fall versucht die Polizei die Sache schnell zu den Akten zu legen. Kein Verdacht auf Fremdeinwirkung; Eck scheint betrunken ins Wasser gefallen zu sein.
Doch Groth lässt das Ganze keine Ruhe. Seinem Gefühl nach stimmt hier etwas nicht. Er vermutet einen Zusammenhang zu dem alten ungelösten Fall und beginnt zu ermitteln, gegen den Befehl seiner Vorgesetzten.
Susanne Tägder entwickelt ihre Geschichte ruhig und mit viel Gespür für Details. Dabei fängt sie sehr gut die Atmosphäre dieser Umbruchszeit ein. Die DDR ist Geschichte, doch in den Köpfen ihrer früheren Bewohner steckt sie noch fest. Sie spüren die Verluste und fürchten sich vor dem Neuen. Auch die alten Seilschaften funktionieren nach wie vor.
Erzählt wird aus zwei Perspektiven. Neben dem melancholischen Ermittler Groth ist Regine Schadow die zweite Hauptfigur. Ihre tatsächliche Rolle wird erst im Verlaufe der Handlung klar. Warum hat sie ihren guten Job im Kempinski in Berlin aufgegeben, um nun in einem drittklassigen Ausflugslokal in Wechtershagen als Kellnerin zu arbeiten? Will sie tatsächlich nur die Wohnung ihrer Großmutter aufräumen, wie sie sagt, oder verfolgt sie ganz andere Pläne? Wie stand sie zu dem ermordeten Siegmar Eck?
Neben der Krimihandlung, bei der es um zwei zusammenhängende Verbrechen geht, überzeugt die Autorin vor allem mit ihrer Figurenzeichnung. Es sind beinahe alles Versehrte, die uns im Roman begegnen. Groth mit seiner grüblerischen Art und seinen Selbstzweifeln ist eine interessante Figur. Ein Kommissar mit einer Liebe zur Literatur, ein Mann, der mit Verlusten klarkommen musste - seine Ehe ist schon lange geschieden, seine Tochter gestorben - bringt allein schon deshalb viel Verständnis auf für diejenigen auf der Opferseite. Und auch Regine hat, trotz ihrer Jugend, schon viele traurige Erfahrungen machen müssen. Aber auch die Nebenfiguren werden vielschichtig gezeichnet, so z.B. der eher verschlossene Kollege mit fragwürdiger Vergangenheit, der Groth bei seinen Ermittlungen unterstützt oder der schweigsame und gebrochene Vater von Eck. All diesen Personen begegnet die Autorin mit viel psychologischem Einfühlungsvermögen und Empathie.
Susanne Tägder schreibt im Präsens. Das wirkt unmittelbarer und verstärkt den filmischen Effekt. Dabei bedient sie sich einer präzisen, z.T. lakonischen Sprache und zeigt gerade in den Dialogen ihr ganzes Können.
Der Autorin ist mit „ Das Schweigen des Wassers“ ein atmosphärisch dichter und fesselnder literarischer Krimi gelungen. Gleichzeitig ist der Roman ein stimmig gezeichnetes Porträt jener Umbruchjahre. Es ist zu hoffen, dass Susanne Tägder weitere Fälle mit dem sympathischen Ermittler folgen lässt.

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Freundschaft vor dem Hintergrund großer Probleme

Der ehrliche Finder von Lize Spit

Lize Spit ist eine flämische Autorin, die mit ihren ersten beiden Romanen nicht nur in ihrer Heimat sehr erfolgreich war. Beide sind sehr umfangreich und düster. Ihr neuester Roman fällt aus der Reihe, ist er doch im Gegensatz sehr schmal und sehr warmherzig. Der geringe Umfang liegt daran, dass „ Der ehrliche Finder“ eine Auftragsarbeit war.

Lize Spit sollte das Buch zur alljährlichen Bücherwoche 2023 schreiben. Das sog.„ Boekenweekgeschenk“ ( Bücherwochengeschenk) wird während dieser Woche jedes Jahr im März von niederländischen Buchhändlern an ihre Kunden verschenkt. Meist handelt es sich dabei um eine Novelle.
Und diese Gattungsbezeichnung passt hier, auch wenn der Verlag dem Buch das Etikett „ Roman“ gegeben hat.
Die Geschichte spielt in den 1990er Jahren in der fiktiven Ortschaft Bovenmeer in Belgien. Hier wohnt der neunjährige Jimmy, ein Einzelgänger und Außenseiter, allein mit seiner Mutter. Seine Familie hat einen schweren Stand im Dorf, denn der Vater, ein Steuerberater, hat einige Menschen hier mit dubiosen Geschäften um ihr Geld gebracht. Jimmy ist sensibel und klug, ein eifriger Sammler und Sachensucher. Sein ganzer Stolz ist seine Flippo-Sammlung. Flippos sind kleine Scheiben mit Sammelbildern, die in Chipstüten zu finden sind.
Kurz nachdem nun sein Vater verschwunden ist, tritt Tristan Ibrahimi in Jimmys Leben. Der Elfjährige ist mit seinen Eltern und seinen sieben Geschwistern aus dem Kosovo geflohen und die Familie hat hier nun eine Unterkunft gefunden. Jimmy soll sich auf Wunsch der Lehrerin um den fremden Jungen kümmern; eine Aufgabe, die er gerne erfüllt. Endlich ist er nicht mehr allein. Er hilft Tristan nicht nur beim Erlernen der Sprache und den Hausaufgaben, sondern die beiden werden richtige Freunde. Als größten Freundschaftsbeweis legt Jimmy sogar ein eigenes Flippo-Sammelalbum für Tristan an. Das will er ihm feierlich überreichen, als er zum Übernachten bei Tristan eingeladen ist. Aber dann drängt sich ein anderes Ereignis in den Vordergrund. Die Ibrahimis sollen abgeschoben werden. Um das zu verhindern, schmieden Tristan und seine zwölfjährige Schwester Jetmira einen gewagten Plan, in dem Jimmy eine nicht unerhebliche, aber gefährliche Rolle zukommt. Das ist eine Herausforderung für ihn, doch um der Freundschaft willen bekämpft er seine inneren Zweifel und Ängste.
Sehr einfühlsam und konsequent aus der Perspektive des neunjährigen Jimmy beschreibt die Autorin die Geschehnisse. Die Einsamkeit des Jungen ist deutlich spürbar. Auch, wie sehr ihn die Gemeinschaft dieser Großfamilie anzieht. Hier erlebt er einen Zusammenhalt und eine Wärme, wie er sie nicht kennt.
Dafür bringt Jimmy viel Verständnis auf, wenn sein älterer Freund von „ inneren Erdbeben“ erschüttert wird. Wenn Tristan plötzlich Angst bekommt vor lauten Geräuschen, vor Uniformen, vor dem Meer, dann beruhigt Jimmy ihn, ohne nachzufragen. Schließlich weiß er, dass die Familie Schlimmes erlebt hat auf ihrer langen Flucht. Die Lehrerin hat, sobald Tristan sich verständlich machen konnte, der ganzen Klasse den Fluchtweg auf einer Landkarte aufgezeigt. „ Kosovo lag in Luftlinie ungefähr zweitausend Kilometer von Belgien entfernt, aber sie waren keine Vögel, sie hatten Grenzposten passieren müssen, zweimal kehrte der Zeigestock von Italien auf dem Landweg nach Albanien zurück, zweimal waren sie nach der lebensgefährlichen Überquerung des Meeres in einen Bus nach Albanien gesetzt worden. Beim dritten Mal hatten sie es geschafft, obwohl sie einen halben Kilometer vor der Küste aus dem Boot gestoßen worden waren. Sie waren auch keine Fische, ein Kind der Familie, mit der sie das kleine Boot teilten, hatte sich nicht bis ans Ufer retten können.“
Die Familie aus dem Kosovo ist im Dorf freundlich aufgenommen worden. Freigebig wurden alle zum „ Ausmustern bestimmten Sachen -Matratzen, Elektrogeräte, Bettwäsche, Spielzeug, Bücher, Instrumente, Trampoline, Babysachen, Werkzeuge - lieber den Ibrahimis“ geschenkt, statt beim Recyclinghof abgeliefert. Die Wohnung dort ist ein Abenteuerspielplatz für die Kinder.
Der Roman beschreibt eine Freundschaft zwischen Kindern vor dem Hintergrund großer Probleme. Dabei schafft es die Autorin, nicht in Klischees zu verfallen oder ins Sentimentale abzurutschen. Was Flucht und Integration bedeutet, wird an konkreten Figuren nachvollziehbar dargestellt.
Eine packende und bewegende Lektüre, die auch für ältere Kinder und Jugendliche geeignet ist, ja, sich als aktuelle Schullektüre anbietet.
Wie es im Nachwort heißt, wurde die Autorin von einer wahren Geschichte inspiriert. Eine zehnköpfige Familie aus dem Kosovo, die nach ihrer Flucht in einem belgischen Dorf unterkam, sollte wieder ausgewiesen werden. Doch nach massivem Protest des Dorfes erhielten sie Asyl.

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Gegen. Ein Vergehen?

Kosakenberg von Sabine Rennefanz

Knapp vier Millionen Menschen sind zwischen 1991 und 2017 aus dem Osten Deutschlands weggegangen, fast ein Viertel der Bevölkerung. Die meisten, die gingen, waren Frauen.
So auch Kathleen, die Protagonistin und Ich- Erzählerin, in Sabine Rennefanz‘ neuem Roman. 1997, kurz nach dem Abitur, verlässt Kathleen ihr kleines Dorf Kosakenberg irgendwo im Osten Brandenburgs, wie viele aus ihrer Klasse.

„ Wir verließen nicht nur unsere Familien, unsere Häuser, unsere Dörfer, sondern auch unsere Vergangenheit….Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat.“
Ja, Kathleen hat es geschafft, hat als Erste ihrer Familie ein Studium abgeschlossen und ist weg aus der ostdeutschen Provinz in die Metropole London. Doch wirklich heimisch geworden ist sie dort lange nicht. Immer wieder reist sie zurück in ihr Dorf, zurück zu Mutter und Freundin. „ Heimreisen,…,waren Manöver durch energetische Felder. Es war, als kreiste man um einen Magneten, der entweder anzog oder abstieß.“ Jeder Besuch in der Heimat ist mit zwiespältigen Gefühlen verbunden. Denn jedes Mal spürt Kathleen stärker die Kluft, die sich zwischen ihr und den Zurückgebliebenen auftut. Jeder versucht im Grunde dem anderen zu beweisen, dass seine Entscheidung „ Gehen oder Bleiben“ die richtige war. „ Gehen, ein Vergehen.“ Ist Kathleen ein „ Verräter“ und ihr beruflicher Erfolg etwas, was ihr missgönnt wird? Schmerzhaft hierbei ist vor allem das Desinteresse der Eltern an ihrer Arbeit und ihrem Alltag. Wie sehr wünscht sich Kathleen ein bisschen Anerkennung. Doch hierbei zeigt sich ein Phänomen, das viele Bildungsaufsteiger erfahren und das wir aus den Büchern von Annie Ernaux und Didier Eribon kennen: Der soziale Aufstieg macht eine Kommunikation auf gleicher Ebene unmöglich, nicht nur bei denen, die man verlassen hat. Nein, auch in der neu angekommenen Klasse fehlen einem das Wissen um die richtigen „ Codes“. Nicht umsonst hat Sabine Rennefanz dem Roman ein Zitat des französischen Soziologen vorangestellt.
Und bei jedem Besuch verschwindet mehr aus dem früheren Umfeld. Die jüngere Schwester wandert nach Australien aus, der Vater verlässt die Familie, die Großmutter stirbt, das Elternhaus wird verkauft. Einzig Mutter Elke bleibt. Aber hier scheint Nadine , die frühere Schulfreundin, den Platz der Tochter eingenommen zu haben. Sie, die geblieben ist und Kinder hat, scheint der Mutter näher zu stehen. Denn Nadine hat, anders als Kathleen, den Lebensentwurf der Mutter bestätigt.
Es sind insgesamt zehn Heimfahrten, die dem Roman Struktur geben. Diese sind oft bedingt durch äußere Geschehnisse, wie Hochzeiten, Umzug, Beerdigungen. Entlang dieser Besuche wird erzählt, das bedingt Lücken im Roman. Z.B. erfahren wir sehr wenig vom Leben in London.
Dafür wird der Wandel in Ostdeutschland nach der Wende bis heute an zahlreichen Beispielen vorgeführt. Nicht nur Kathleen war der Heimat untreu geworden, „ …auch die Heimat war nicht treu geblieben, sondern veränderte sich.“
Da alles aus der Perspektive von Kathleen erzählt wird, erhält der Leser natürlich nur eine einseitige Sicht der Dinge. Er ist dadurch gezwungen, das Geschehene richtig zu deuten. Erleichtert wird dies aber, weil auch die anderen Figuren im Roman vielschichtig gezeichnet werden und somit Tiefe bekommen,
Sabine Rennefanz geht sorgfältig mit der Sprache um, findet schöne Vergleiche und macht sich Gedanken über das, was hinter den Worten steckt. „ Warum hieß es Vaterland, aber Mutterboden?“
Die das Cover zierenden Eier bekommen auch eine tiefere Bedeutung im Roman. Zu DDR-Zeiten und auch später noch hielten sich die meisten Kosakenberger Hühner. Eier stellten eine eigene Währung dar,
„ waren Zahlungsmittel und Liebesbeweis.“ Eier haben aber auch eine tiefe Symbolik, ihre Zerbrechlichkeit steht für das Fragile in Beziehungen.
Sabine Rennefanz ist selbst in einem kleinen Ort in Brandenburg aufgewachsen, hat dann einige Jahre in London gelebt und gearbeitet, bevor sie in Berlin heimisch geworden ist. Sicher ist deshalb vieles aus ihren eigenen Erfahrungen in dieses Buch eingeflossen.
„ Kosakenberg“ ist ein wunderbarer Roman über das Weggehen und Ankommen, über Heimat und Verlust, über schwierige Mutter- Tochterbeziehungen und speziell über den Wandel in Ostdeutschland. Viele werden sich darin wiederfinden, unabhängig davon, ob sie aus einem ostdeutschen oder westdeutschen Ort weggingen. Was bedeutet Heimat, was deren Verlust, wie lässt sich eine neue Heimat finden? Welche Konsequenzen hat der Aufstieg aus seiner sozialen Klasse? Welches Leben will ich führen? Das sind universelle Themen, die der Roman gekonnt verknüpft, ohne überfrachtet zu sein.
Auch das Ende kann überzeugen, es ist versöhnlich, aber schlüssig.

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